Lesung / Vortrag / Gespräch
GEMEINSAME GESCHICHTE – Offenes Erzählcafé ostdeutscher Frauen Eine Kooperation mit Frauenzentrum »Guter Rat«
SocietaetstheaterKeine Termine
Auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall haben die Frauen (meint immer alle weiblich gelesenen und sich selbst als weiblich wahrnehmende Personen) in Ostdeutschland häufiger einen Vollzeitjob als im geografischen Westen der Bundesrepublik. Und nicht nur das: Wie alle Frauen sind sie außerdem Mutter, Schwester oder Freundin. Sie erledigen die Hausarbeit, erziehen Kinder oder pflegen Angehörige. Und machen dabei noch Karriere. So verdienen Frauen im Osten heute nicht selten mehr als Männer (meint immer alle männlich gelesenen und sich selbst als männlich wahrnehmende Personen) und wenn Ostdeutsche in den bundesweiten Führungsriegen in Wirtschaft und Politik sitzen, sind es mehrheitlich Frauen. Frau kann es also – und trotzdem bleibt ihre Arbeit oft unsichtbar. Das liegt nicht nur an der Krisenanfälligkeit ihrer Tätigkeiten und Berufe, die sich oft einer rein marktwirtschaftlichen Verwertungslogik entziehen, sondern auch an der eigenen, bescheiden-ostdeutschen Sozialisation, die nicht viel Wirbel um das eigene Tun veranstaltet und sich der Diskussion darüber gern entzieht. Im offenen Erzählcafé des Societaetstheaters finden Frauen mit verschiedenen Hintergründen, Erfahrungen und Perspektiven Raum für ihre Erzählungen. Moderiert und begleitet wird der Abend von der Autorin und Kolumnistin Marlen Hobrack.
-
Die veränderte politische Lage 1989 stellte im Besonderen die Frauen in Ostdeutschland vor große Herausforderungen. Man musste halt durchkommen, vorher im Sozialismus, während der Wende und danach sowieso. Frauen waren die ersten, die während der Deindustrialisierung der neuen Bundesländer nach der Wende vom Arbeitsmarkt verschwanden. Für die Frauen führte das zu unterbrochenen, vorzeitig beendeten oder unsteten Erwerbsbiografien. Und der Erfahrung eines Wertverfalls der eigenen Arbeit. Ein Schock, von dem sich die ostdeutsche Gesellschaft als Ganzes nicht erholt hat und der bis heute ein wiederkehrendes Narrativ in der anhaltenden Ost-West-Debatte ist. Auch wenn manche es glauben mögen: Diese Geschichten sind nicht auserzählt. Im Gegenteil, sind doch die vielen Romane, Sachbücher und Lesungen zum Thema nur die Spitze des Eisbergs.
Obwohl ostdeutsche Erzählungen immer noch Hochkonjunktur haben, wissen wir viel zu wenig davon, wie Frauen konkret durch diese Zeit gekommen sind. Ob als gelernte Facharbeiterin, ehemalige Vertragsarbeiterin, Studentin, Schulabbrecherin oder später von Arbeit zu Arbeit gehangelt. Nach über 30 Jahren ist es Zeit, dass die Stimmen der Frauen gehört werden. Wie sie berufliche Umbrüche erlebt haben, die nicht selten zu sozialen wurden. Wie viele verschiedene Tätigkeiten sie ausgeübt und welche Erfahrungen sie gesammelt haben. Welche Mühen es gekostet, welche Freuden sie erlebt haben und an welchem Punkt sie schließlich heute angekommen sind. Die eigene Geschichte zu erzählen ist nie nur eine private Angelegenheit, sondern immer auch politisch und in den sie einbettenden Strukturen zu betrachten. Es braucht Mut, sie öffentlich zu machen. Denn da ist
vielleicht die Angst, ganz konkret als Jammer-Ossi abgestempelt zu werden, oder die Befürchtung, das eigene Leben sei nicht erzählenswert. Nicht wichtig genug. Die Scham, von getroffenen Entscheidungen zu berichten. Das Erzählen hilft, Erfahrungen zu verarbeiten und Wissen zu teilen. Es ist soziale Interaktion und Spiegel gesellschaftlicher Zustände und schafft eine Verbindung zu anderen, zuhörenden Menschen. Über ihr nach Tonbandprotokollen entstandenes Werk »Guten Morgen, du Schöne« schrieb Maxi Wander einmal: »Vielleicht ist dieses Buch nur zustande gekommen, weil ich zuhören wollte.« Dass es die eigene Geschichte ist, die es wert ist, erzählt zu werden, in der sich Zuhörende wiederfinden können, kann eine einschneidende Erfahrung sein. Denn erst bei der Betrachtung sich ähnelnder Biografien wird klar, dass es vielfach keine freie Entscheidung war, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenkte. Sondern Umstände, Zeit, strukturelle Defizite. Eine gemeinsame Geschichte gibt sich zu erkennen. Erzählen und Zuhören sind also Formen des Wiedererkennens der eigenen Erfahrungen im Anderen. Und der Anerkennung für das eigene Leben, die viele Frauen in Ostdeutschland bisher nicht gemacht haben und die sie nach 30 Jahren mehr als verdienen.Im Rahmen des Festivals sind alle interessierten Erzählerinnen und Zuhörer:innen (zum Zuhören sind ausdrücklich auch Männer eingeladen) zum Erzählcafé über ostdeutsche Arbeiterinnenbiografien eingeladen. Unterstützt von der Moderatorin Marlen Hobrack ist an diesem Abend genügend Raum und Zeit für eigene und gemeinsame Geschichten.
Quelle: Societätstheater