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Zum Vortrag Karl May war um 1900 einer der populärsten deutschen Schriftsteller – zugleich aber auch ein klassischer Hochstapler. Doch gelingt es ihm, seine pathologischen Neigungen literarisch zu sublimieren – was allein schon als außergewöhnliche Leistung gewürdigt werden muss.
Allerdings fällt er auf dem Höhepunkt seiner Karriere wieder in die Rolle des Hochstaplers zurück: Er gibt nun vor, die Schauplätze seiner Romane aus eigener Anschauung zu kennen und identifiziert sich zunehmend mit seinen fiktiven Figuren. Schließlich behauptet er mehrfach, er sei mit Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi identisch. Zugleich beginnt ihm die Diskrepanz zwischen biografischer Wahrheit und Fiktion Sorgen zu machen, sodass er versucht, mit Hilfe von Publikationen und Fotografien seinen Lebenslauf plausibler erscheinen zu lassen. Kernstück dieser Selbstdarstellungsstrategie war sein Arbeitszimmer in der Villa Shatterhand, das er mit zahllosen Gegenständen, Teppichen, Fellen und Waffen wie exotisches Jagdzimmer dekoriert, um sich gegenüber Besuchern und Fans als tatsächlicher Weltenbummler und Großwildjäger in Szene zu setzen.
Letztlich kann May trotz aller Anstrengungen die Zweifel an seiner Biographie nicht ausräumen und wird von Feinden und Neidern als notorisch betrügerischer ‚Berufskrimineller‘ stigmatisiert. Das Krankheitsbild der Pseudologia phantastica (Diagnose nach ICD -10) ist von einer hohen lebenslangen Rückfallquote geprägt. Insofern schien Cesare Lambrosos Kategorie des „geborenen Verbrechers“ auf May zuzutreffen – was seine Verleumder damals auch als Argument gegen ihn nutzten. Damit wird man Karl May letztlich aber nicht gerecht. Sein Kampf, durch literarische Fiktion, also durch Kunst, der Sphäre des „geborenen Verbrechers“ zu entkommen, führte ihn paradoxerweise in die Grauzone der Hochstapelei zurück, was seiner Vita einen tragischen, vielleicht auch tragikomischen Zug verleiht.
Autorenbiografie Dr. phil. Christian Saehrendt Geb. 1968 in Kassel. Lebt in Thun (CH). 2002 Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seitdem als freiberuflicher Historiker und Kunsthistoriker tätig. Wissenschaftliche Studien zu politischen Denkmälern (Plastik und Architektur in der Weimarer Republik und im Realsozialismus), über internationale Kulturbeziehungen, zur Geschichte der Ausstellung „documenta“, zur Künstlergruppe „Die Brücke“. Zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen im Bereich Moderne und zeitgenössische Kunst.
Quelle: Karl-May-Museum